Was der Mercantour Nationalpark im Süden, ist
der Parco Regionale delle Alpi Marittime im Norden der Seealpen -
wesentlich kleiner zwar und auch 'nur' Regional- und nicht Nationalpark,
dafür überschaubarer und nicht minder attraktiv.
Als 'königlichen Park'
bezeichnen Broschüren den Naturpark - wobei die Werber sich nicht
dazu äußern, ob sich die Bezeichnung auf die herausragenden
Naturschönheiten der Region oder auf die royalen Hinterlassenschaften
beziehen.
In der Tat hatten die Savoyer
starken Einfluss auf die Entwicklung: so lockten zum Beispiel diverse
schwefel- und eisenhaltige Quellen zwar schon die Römer nach Terme
di Valdieri - aber erst nachdem der Savoyerkönig Carlo Emanuele
III. 1755 entschied, hier einen Badeaufenthalt zu verbringen, wurde
der Grundstein für die Bekanntheit der Terme gelegt.
Einer seiner Nachfolger
war es dann auch, der die Region ein Jahrhundert später prägte
wie kein anderer vor ihm: Vittorio Emanuele II. machte Entraque-Valdieri
zu einem seiner Jagdreviere, baute hier eine Sommerresidenz und diverse
Jagdhäuser. Vergleichsweise bescheidene Häuser - Schlösser
à la Neuschwanstein oder Linderhof darf hier niemand erwarten
- aber wer braucht schon Zuckerbäckerarchitektur? An der Reale
Casa di Caccia auf der Valasco-Hochebene führt die Via Alpina vorbei
und auch an zwei Chalets im Schweizer Stil', die jüngst renoviert
wurden. Eines davon, die Casa della Bela Rosin' wurde für
Rosa Vercellana errichtet, jener Frau, mit der der König fast 30
Jahre lang bis zu seinem Tod zusammenlebte, und 1869 - zwei gemeinsame
Kinder wurden bereits zu Lebzeiten von Königin Adelheid geboren
- auch heiratete (morgantinisch oder, wie unsere Großmütter
noch gesagt hätten: "zur linken Hand").
Wer sich für derartige
Yellow-Press-Begebenheiten weniger interessiert, findet auf zum
Teil sehr gut erhaltenen Jagdsteigen Wanderwege, die ihresgleichen suchen.
Der rote Weg der Via Alpina
führt in den nördlichen Seealpen auf acht Etappen von Pontebernardo
bis zur Staatsgrenze zwischen dem Rifugio Ellena-Soria und der Sanctuaire
de la Madone de Fenestre (R 137-R144) und wechselt dann auf die Südseite
über.
Man startet in Pontebernardo
im oberen Sturatal in Richtung des Almgebietes Prati di Vallone (Vorsicht:
geänderte Streckenführung!) und damit zum Wirkungsfeld des
mittlerweile verstorbenen Priesters und Naturfreundes Don Giovanni,
weit besser bekannt unter dem Namen Zio John', Onkel John. Eine
Ferienkolonie für Kinder hat er hier gegründet und eine Art
botanischen Alpengarten angelegt, in dem seltene Pflanzen gehegt werden,
aber auch die für die Gewinnung von Genepi benötigte Artemisia
Glacialis wächst.
Weitere Stationen sind das Rifugio Migliorero,
das wie für die Ewigkeit gebaut zu sein scheint und ein wenig an
die schottischen Highlands erinnert, San Bernolfo, wo wir Strohdächer
nach Walserart vergeblich suchten, Bagni di Vinadio (Strepeis) und Sanct
Anna di Vinadio, das höchst gelegene Kloster Europas. Die Kirche
lohnt einen Besuch wegen der dicht aneinanderhängenden Danksagungsbekundungen:
Viele handgemalte Pastell-, Bleistift- und auch Ölbilder (nur aus
jüngerer Zeit profane Fotos) zeigen auf, welche Gefahren, meist
Auto- Traktor- oder Motorradunfälle, überlebt wurden - dafür
"Grazia Ricevuta".
Am Colle della Lombarda kann man einen besser nur kurzen Blick auf die
zubetonierten Hänge der Skistation Isola 2000 investieren, bevor
über das neue Rifugio Malinvern unterhalb des gleichnamigen Gipfels
am Colletto Valscura der Parco Naturale delle Alpi Marittime erreicht
ist.
Neben Rhododendron, blauem und gelbem Enzian
säumen Alpinigravuren an diversen Ruinen militärischen Ursprungs
den Weg Richtung Rifugio Questa. Über Terme di Valdieri mit Kurhotel
und Thermalanlage ("Gute, wenn auch nicht billige Station im zentralen
Teil des Gebirges" konstatierte schon Ludwig Purtscheller vor über
100 Jahren!) geht es wieder aufwärts, vorbei an Cime di Argentera
und dem Corno Stella, der lang als unbezwingbar galt, zum Bacino del
Chiotas. Der große Stausee hat nicht nur das älteste Rifugio
der gesamten Seealpen, das erste Rifugio Genova, unter sich begraben,
sondern auch das Mikroklima stark verändert - wenn abends die Nebelschwaden
über den See wabern und die Lichter auf der Staumauer angehen,
fühlt man sich ein wenig wie im Hamburger Hafen.
Hätten die Alpen wirklich ein 'Gedächtnis',
gäbe es auf dem letzten Wegstück zwischen dem Rifugio Soria-Ellena
und der Sanctuaire de la Madone de Fenestre viel zu erinnern: unter
anderem diente dieser Weg (und der über den Col de Cérise)
einer großen Gruppe von Juden, darunter Frauen, Kinder und alten
Menschen, als vermeintlicher Fluchtweg vor den Nazis. Von März
bis September 1943 hatten sie in Saint-Martin Vésubie Zuflucht
gefunden und suchten nun, da die Deutschen von Süden vorrückten,
einen Weg nach Italien. An diesen gescheiterten Fluchtversuch erinnert
seit 2005 der Percorso Ebraici', ein Erinnerungspfad des italienisch-französisch-schweizerischen
Gemeinschaftsprojektes 'Gedächtnis der Alpen' das sich u.a.
zur Aufgabe gesetzt hat, die politischen und rassistischen Verfolgungen,
Kriegsereignisse sowie die geistigen und militärischen Widerstandsbewegungen,
die den Alpenraum stark geprägt haben, nicht in Vergessenheit geraten
zu lassen.
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